Dr. Richard C. Schwartz: Die Entwicklung des Modells
IFS hat sich im Laufe der letzten 30 Jahre zu einem umfassenden Ansatz entwickelt, der Leitlinien für die Arbeit mit Einzelpersonen, Paaren und Familien beinhaltet. Es stellt eine neuartige Synthese aus zwei bereits vorhandenen Paradigmen dar: dem systemischen Denken und der Multiplizität der Persönlichkeit (mind). Das IFS-Modell bringt Konzepte und Methoden aus der strukturellen, der strategischen, der narrativen und der Bowen´schen Schule der Familientherapie in die Welt der Teilpersönlichkeiten. Diese Synthese entstand ganz natürlich, als ich – damals ein junger, begeisterter Familientherapeut – immer wieder die Berichte meiner Klienten über ihr Innenleben hörte. Sobald ich in der Lage war, meine vorgefassten Meinungen über Therapie und Persönlichkeit beiseite zu lassen und begann, meinen Klienten wirklich zuzuhören, hörte ich immer wieder Beschreibungen von dem, was sie oft „ihre Teile“ nannten – die Teilpersönlichkeiten, die ihre Konflikte in ihnen austrugen.
Das war keine neue Entdeckung. Viele andere Theoretiker haben ein ähnliches inneres Phänomen beschrieben, beginnend mit Freuds Es, Ich und Über-Ich, und in jüngerer Zeit die Objektbeziehungs-Theorien von inneren Objekten. Aber auch weniger etablierte Ansätze wie die Transaktionsanalyse (Ich-Zustände) und die Psychosynthese (Unterpersönlichkeiten) haben diesen Kerngedanken, und inzwischen zeigt er sich auch in den kognitiv-behavioristischen Ansätzen unter dem Begriff der Schemata. Vor der Entwicklung von IFS wurde jedoch der Frage, wie diese inneren Einheiten miteinander „funktionieren“, wenig Aufmerksamkeit geschenkt.
Danach begreift IFS die menschliche Persönlichkeit (mind) als ein ökologisches System, bestehend aus voneinander relativ abgegrenzten (Teil-)Persönlichkeiten, von denen jede schätzenswerte Qualitäten besitzt, und die dazu bestimmt und willens sind, entsprechend wertvolle Rollen zu übernehmen. Jedoch werden diese Teile durch Lebenserfahrungen, die das Gesamtsystem in einer dysfunktionalen Weise neu organisieren, aus ihren wertvollen Rollen herausgezwungen. Eine gute Analogie hierzu bietet etwa eine Alkoholikerfamilie, in der die Kinder durch die extreme Dynamik ihrer Familie in beschützende und stereotype Rollen gezwungen werden. Finden sich nun ähnliche solcher Geschwisterrollen in diversen Alkoholikerfamilien (z.B. Sündenbock, „Heilsbringer“, verlorenes Kind usw.), bedeutet dies nicht, dass diese Rollen dem eigentlichen Wesen jener Kinder entsprächen. Vielmehr ist jedes Kind einzigartig und kann, sobald es durch eine entsprechende Intervention aus seiner Rolle befreit ist, Interessen und Talente entdecken, die unabhängig sind von den Anforderungen des chaotischen Familiensystems.
Eben dieser Prozess scheint sich auch in inneren Familien abzuspielen – Teile werden durch äußere Umstände in extreme Rollen gezwungen und verwandeln sich, sobald es sicher zu sein scheint, mit Freuden in wertvolle Mitglieder.
Welche Umstände sind es nun, die diese Teile in extreme und manchmal zerstörerische Rollen zwingen? Traumatische Erlebnisse sind ein Faktor, und die Auswirkungen von sexuellem Missbrauch in der Kindheit auf das innere Familiensystem sind ausführlich diskutiert worden (Goulding & Schwartz, 1995). Aber häufiger sind es die in einer Familie vorherrschenden Werte und Interaktionsmuster, die zu inneren Polarisierungen führen, welche mit der Zeit eskalieren und in anderweitigen Beziehungen ausgelebt werden. Auch dies ist keine neue Beobachtung: vielmehr ist es einer der zentralen Grundsätze der Objektbeziehungs-Theorien sowie der Selbst-Psychologie. Neu am IFS-Modell ist der Versuch, alle Ebenen menschlicher Organisation – die intrapsychische, die familiäre und die kulturelle – mit Hilfe derselben systemischen Prinzipien zu verstehen und auf jeder dieser Ebenen unter Anwendung derselben ökologischen Techniken zu intervenieren.
Manager, Feuerbekämpfer, Verbannte
Gibt es Rollen, die in verschiedenen Personen immer wieder auftreten? Nachdem ich mit einer großen Anzahl von Klienten gearbeitet hatte, wurden einige Muster erkennbar. Die meisten Klienten hatten Teile, die versuchten, das Funktionieren und die Sicherheit des Klienten aufrecht zu erhalten.
Eine Person, die in ihrer Vergangenheit verletzt, gedemütigt, verängstigt oder beschämt wurde, wird Teile haben, die die Gefühle, Erinnerungen und Eindrücke jener Erfahrungen tragen. Oft wollen die Manager solche Gefühle außerhalb des Bewusstseins halten und versuchen folglich, diese verletzten oder bedürftigen Teile in den inneren Kammern verschlossen zu halten. Diese eingekerkerten Teile nennen wir die „Verbannten“.
Die dritte und letzte Gruppe von Teilen tritt immer dann in Aktion, wenn einer der Verbannten derart aufgewühlt ist, dass er droht, die Person mit diesen extremen Gefühlen zu überfluten oder aber sie der Gefahr erneuter Verletzung auszusetzen. Ist dies der Fall, versucht diese dritte Gruppe, die „Gefühlsflammen“ so schnell wie möglich zu löschen, sodass sie mit Recht „Feuerbekämpfer“ genannt werden. Sie neigen zu hoher Impulsivität und sind auf der Jagd nach Reizen, die die Empfindungen der Verbannten überlagern oder zu ihrer Dissoziation führen. In Drogen- und Alkoholabhängigkeit, Essstörungen, Sex- oder Arbeitssucht zeigen sich häufig Aktivitäten von Feuerbekämpfern.
Das Selbst
Es gibt einen weiteren Schlüsselbegriff im IFS-Modell, der es von anderen Ansätzen unterscheidet. Es handelt sich dabei um die Überzeugung, dass jeder Mensch neben seinen Teilen ein Selbst ist, das sich durch entscheidende Führungsqualitäten wie Perspektive, Vertrauen, Mitgefühl und Akzeptanz auszeichnet. Meine Arbeit mit Hunderten von Klienten über mehr als ein Jahrzehnt, darunter solche mit schwersten Missbrauchserfahrungen und entsprechend heftigen Symptomen, hat mich davon überzeugt, dass jeder Mensch dieses gesunde und heilende Selbst in sich trägt, und zwar ungeachtet der Tatsache, dass viele von ihnen zunächst sehr wenig Zugang dazu haben.
Bevor ich mich vor fast 30 Jahren auf diese Reise begab, hatte ich keine Vorstellung vom Selbst. Wie viele andere Leute in den 60ern hatte auch ich mit Meditation experimentiert, um Erholung von meiner inneren Kakophonie zu finden. Dabei erahnte ich andere Dimensionen meiner selbst, konnte sie aber nicht einordnen. Als Sportler, auf dem Football- oder Basketballfeld, geriet ich gelegentlich in diesen köstlichen Zustand des Fließens, in dem mein Geist still war und mein Körper nichts Falsches tun konnte. Aber wie die meisten Menschen verwandte ich einen großen Teil meiner Energie darauf, gegen das untergründige Gefühl der Wertlosigkeit zu kämpfen, das meine Psyche durchströmte. Ich glaubte den inneren Stimmen, die mir sagten, ich sei im Grunde faul, dumm und selbstsüchtig. Ich glaubte, so sei ich wirklich.
Über das Selbst erfuhr ich erstmal weniger über direkte Erfahrung. Doch später dann in der Rolle des Therapeuten wurde ich Zeuge dessen, was mit meinen Klienten passierte, wenn ich ihnen half, ihre inneren Welten zu erkunden. In den frühen 80er Jahren hatte ich verschiedene Klienten, die anfingen, über ihre unterschiedlichen Teile so zu sprechen, als wären diese „Teile“ eigenständige Stimmen oder Teilpersönlichkeiten. Als Familientherapeut fesselten mich diese inneren Kämpfe, und ich begann, meine Klienten zu bitten, diese Kämpfe genau so zu beeinflussen, wie ich zuvor versucht hatte, ihre familiären Kommunikationsstrukturen zu verändern. Anscheinend konnten viele von ihnen mit diesen Gedanken und Gefühlen sprechen, als seien es echte Persönlichkeiten. Ich ließ z.B. Diane, eine Klientin, ihre pessimistische Stimme fragen, warum diese ihr ständig mitteile, sie sei hoffnungslos. Diese sagte, sie erkläre Diane für hoffnungslos, damit sie keine Risiken einginge und dann verletzt werden könne. Die Stimme versuchte sie zu schützen.
Das hörte sich nach einer vielversprechenden Interaktion an. Sollte dieser Pessimist wirklich ein gute Absicht verfolgen, so könnte Diane mit ihm über eine andere Rolle verhandeln. Noch hatte Diane kein Interesse daran. Sie war ärgerlich auf diese Stimme und teilte ihr mit, sie solle sie in Ruhe lassen. Ich fragte sie, warum sie mit dem Pessimisten so grob umginge; und sie begann, ihn lang und heftig zu kritisieren, er habe ihr bei jedem Schritt, den sie in ihrem Leben getan habe, riesige Hürden entgegengestellt. Dann kam mir die Idee, daß ich nicht mit Diane sprach, sondern mit einem anderen Teil von ihr, der fortwährend gegen den Pessimisten kämpfte. In einem früheren Gespräch hatte mir Diane von einem andauernden Krieg in ihrem Inneren berichtet, zwischen einer Stimme, die sie antrieb, etwas zu erreichen, und dem Pessimisten, der ihr sagte, es sei hoffnungslos. Anscheinend hatte sich der antreibende Teil eingemischt, während sie mit dem Pessimisten sprach.
Ich bat Diane, sich auf die Stimme zu konzentrieren, die so ärgerlich auf den Pessimisten reagierte und diese zu bitten, sich nicht weiter in ihre Verhandlungen mit dem Pessimisten einzumischen. Zu meiner Verwunderung war die Stimme bereit „zurückzutreten“ und Diane löste sich sofort von dem Ärger, den sie noch Sekunden zuvor so stark empfunden hatte. Als ich nun Diane fragte, was sie nun für den Pessimisten empfände, schien mir eine andere Person zu antworten. Mit ruhiger und liebevoller Stimme erklärte sie, sie sei ihm dankbar für seinen Versuch, sie zu beschützen, und es täte ihr leid, dass er so hart arbeiten müsse. Auch ihr Gesichtsausdruck und ihre Haltung hatten sich verändert und spiegelten das sanfte Mitgefühl in ihrer Stimme. Von da an waren die Verhandlungen mit dem Pessimisten leicht.
Ich probierte diesen Prozess des „Zurücktretens“ mit einigen anderen Klienten aus. Manchmal war es nötig, zwei oder drei Stimmen zu bitten, sich nicht einzumischen, bevor meine Klienten und Klientinnen einen Zustand – ähnlich dem von Diane – erreichten, aber nichtsdestotrotz gelangten wir dorthin. Ich wurde ganz aufgeregt. Was, wenn die Person, die übrig blieb, sobald ihre Teile zurückgetreten waren, immer so mitfühlend wäre, wie es Diane und andere Klienten geworden waren?
In diesem Zustand von Sanftmut und Mitgefühl fragte ich diese Klienten, was für eine Stimme oder welcher Teil gerade anwesend war. Sie alle antworteten in etwa folgendes:
„Das ist kein Teil, wie jene anderen Stimmen es sind, das entspricht mehr dem, wie ich wirklich bin, das ist mein Selbst.“ Ohne es zu wissen und unerwartet war ich auf eine neue Möglichkeit gestoßen, Menschen dabei zu helfen, einen Zugang zu Ihrem Selbst zu finden, von dem viele spirituelle Traditionen sprechen, begriffen hatte ich das aber erst Jahre später. An diesem Punkt wühlte mich die Erkenntnis regelrecht auf, einen Weg gefunden zu haben, durch den die Therapie für meine Klienten und für mich so viel effektiver und weniger anstrengend wurde.
Diane und die anderen Klienten traten in einer Weise zu ihren Teilen in Beziehung, die diese Teile zu brauchen schienen. Sie begannen mit Hilfe ihres auftauchenden Mitgefühls, ihrer Klarheit und Weisheit diese inneren Persönlichkeiten kennenzulernen und für sie zu sorgen. Einige Teile, wie eben Dianes Pessimist, mussten von ihr hören, dass es heute – im Gegensatz zu einer Zeit, als sie tief verletzt war und es brauchte, sich zu entziehen – nicht mehr nötig war, sie in dieser Form zu beschützen. Teilpersönlichkeiten wie der Pessimist schienen Traumatisierungsopfern gleich, die in der Vergangenheit stecken geblieben waren, eingefroren in einer Zeit größter Not. Andere brauchten es, gehalten, getröstet und geliebt zu werden oder einfach, dass man ihnen zuhörte.
Aber am erstaunlichsten war die Tatsache, dass Klienten, sobald sie sich im Zustand des Selbst befanden, zu wissen schienen, was zu tun oder zu sagen war, um einer jeden inneren Persönlichkeit zu helfen. Es wurde immer deutlicher, dass ich sie nicht zu lehren brauchte, wie sie sich gegenüber den verschiedenen Gedanken und Gefühlen, die sie Teile nannten, verhalten sollten, denn sie fingen entweder automatisch an, zu tun, was der Teil brauchte oder sie begannen Fragen zu stellen, die zu Antworten führten, wie dem Teil zu helfen war. Meine Aufgabe bestand hauptsächlich darin, ihnen dabei zu helfen, im Zustand des Selbst zu bleiben und dann aus dem Weg zu gehen, wenn sie selbst zu Therapeuten für ihre eigene innere Familien wurden.
Da ich ja immer noch Familientherapeut war, begann ich auch im Bereich interpersoneller Beziehungen mit dem Selbstführungs-Ansatz zu experimentieren. Wenn ich Familienmitglieder dabei unterstützen konnte, ihre Teile zurücktreten und ihr jeweiliges Selbst sprechen zu lassen, waren sie in der Lage, lange bestehende Konflikte fast ohne mein Zutun selbstständig zu lösen. Anstatt auf die extremen Ansichten und Positionen des jeweils anderen zu reagieren, schienen alle Beteiligten im Zustand des Selbst automatisch Empathie für den Anderen zu entwickeln, genauso wie es der einzelne Klient für seine eigenen Teile hatte. Sie konnten den Schmerz hinter der schützenden Mauer des Gegenübers empfinden und hatten keine Angst, ihr Gesicht zu verlieren, wenn sie sich für die Art und Weise entschuldigten, in der sie vielleicht zu dieser Verletzung beigetragen haben könnten.
Ich sah das Heilungspotential, das in der Selbstführung lag, war aber frustriert, weil diese Ausflüge in die Führung durch das Selbst oft nicht lange anhielten und in den nachfolgenden Sitzungen die inneren und äußeren Familiensysteme oft zu ihren alten Mustern zurückkehrten. Zudem waren viele Klienten zunächst nicht in der Lage, in den Zustand der Selbstführung zu gelangen. Deren Teile waren nicht bereit zurückzutreten oder taten dies nur vorübergehend.
Später sollte ich begreifen, dass wir die Teile, die von Schmerz und Scham überschwemmt waren, heilen mussten, um die Selbstführung aufrecht halten zu können. Um diese Teile jedoch erreichen zu können, brauchten wir die Erlaubnis derer, die sie beschützten. Damals hatte ich nur den Hauch einer Ahnung davon, was es bewirken konnte, Menschen auf dem Weg zu ihrem Selbst zu unterstützen, dennoch weckte diese Vision eine solche Freude, dass ich ihr mein berufliches (und einen Großteil meines privaten) Lebens widmete.
Selbst-Führung
Weiterhin stellte ich fest, dass das Selbst nicht einfach ein passiver Zustand des Zeugen war. Es war tatsächlich nicht einfach ein Bewusstseinszustand, sondern konnte eine heilende Kraft innerhalb und außerhalb eines Menschen sein. Es war nicht nur verfügbar in einer Therapiesitzung oder während des Meditierens, wo Menschen sich darauf konzentrierten, sich von ihren Gedanken und Gefühlen zu lösen oder diese zu beobachten. Von dem Moment an, in dem die Teile darauf vertrauen konnten, dass sie nicht dauernd beschützen mussten und dem Selbst die Führung überlassen konnten, stand immer ein Mindestmaß an Selbst für ihre Entscheidung zur Verfügung. Selbst während einer Krise, in der die Emotionen einer Person hohe Wellen schlugen, war ein Unterschied spürbar. Anstatt durch ihre Gefühle überwältigt zu werden oder mit ihnen zu verschmelzen, waren Personen im Selbst fähig, in ihrer Mitte zu bleiben, in dem Wissen, dass es nur ein Teil von ihnen war, der aus der Fassung geraten war und sich beizeiten wieder beruhigen würde. Sie wurden das „Ich“ im Sturm (unübersetzbares Wortspiel aus : „I“ und „eye“ in the Storm).
Nach jahrelanger Erfahrung in und mit dieser Arbeit entwickelt man ein Gespür dafür, wann etwas vom Selbst einer Person anwesend ist und wann nicht. In Anlehnung an das Sprichwort könnte man sagen, man bekomme den Eindruck, dass „die Lichter an sind und jemand zuhause ist“. Ein Mensch mit Selbstführung ist leicht zu identifizieren. Andere beschreiben eine solche Person als offen, zuversichtlich, wohlwollend – als jemanden mit Präsenz. Sie fühlen sich sofort wohl in der Gegenwart einer Person, die im Selbst ist, weil sie spüren, dass es dort sicher ist und sie sich entspannen und ihr eigenes Selbst zeigen können. Über einen solchen Menschen hört man oft Bemerkungen wie: „ich mag ihn, weil ich ihm nichts vormachen muss – bei ihm kann ich ich selbst sein“. Man erkennt aus ihren Augen, ihrer Stimme, ihrer Körpersprache und aus der Energie, die sie umgibt, dass man mit jemanden zu tun hat, der authentisch, verlässlich und ungekünstelt ist. Sie fühlen sich dadurch angezogen, dass die selbst-geführte Person es nicht nötig hat, krampfhaft an eigenen Zielen festzuhalten oder sich selbst darzustellen, sowie von seiner Leidenschaft für das Leben und seiner Bereitschaft zu dienen. Solch ein Mensch muss nicht durch moralische Forderungen oder mit Hilfe von Gesetzen gezwungen werden, das Richtige zu tun. Er oder sie ist ganz natürlich von Mitgefühl geleitet und damit motiviert, den Zustand der Menschheit zu verbessern in dem Bewußtsein, dass wir alle miteinander verbunden sind.
Wann immer ich damit anfange, diese Person im Selbst zu beschreiben, aktiviert das Teile von mir, die sich minderwertig fühlen. Während es Zeiten gibt, in denen ich darum weiß, dass einige dieser Qualitäten in mir verkörpert sind, überwiegen doch jene Zeiten, in denen ich mich himmelweit davon entfernt fühle. Ich glaube, dass dies einer der Fehler mancher organisierter Religionsgemeinschaften ist. Sie halten ihren Anhängern das Idealbild einer „Heiligen“ vor Augen als Modell dafür, wie man sein sollte, vermitteln aber kaum praktische Hilfestellungen, abgesehen von Willenskraft und Gebet. Als Folge davon entwickeln Menschen ein anhaltendes Gefühl von Minderwertigkeit und Ärger über ihre Gefühle und Gedanken, die nicht so hochentwickelt sind.
Qualitäten des Selbst
Welche weiteren Erkenntnisse finden wir über die Qualitäten des Selbst? Um der Klarheit willen möchte ich unterscheiden zwischen dem, was Menschen aus der Meditation berichten – also während sie im Ozean aufgehen – und dem, wie Menschen sich zeigen, wenn ihr Selbst die aktive Führung in ihrem alltäglichen Leben übernimmt, während sie eine einzelne Welle im Ozean sind.
Dieser ozeanische Zustand ist es, der so schwer zu beschreiben ist. Die Menschen beschreiben ein Gefühl von Grenzenlosigkeit, von Einssein mit dem Universum und als verlören sie ihre Identität als Einzelwesen. Dies geht einher mit einem Gefühl der Weite in Körper und Geist und kann eine Erfahrung von großer Zufriedenheit sein mit Momenten der Glückseligkeit. Häufig fühlen sie eine pulsierende Energie oder Wärme durch ihren Körper strömen und manchmal wird eine Art Licht in ihnen oder um sie herum wahrgenommen. Auf dem Weg zu einer tieferen meditativen Praxis durchlaufen Menschen verschiedene Stufen und Stationen, wie sie die unterschiedlichen esoterischen Traditionen entdeckt und beschrieben haben.
In unserem Zusammenhang interessiert uns mehr, welche Erfahrung Menschen machen, wenn sie etwas von diesem Bewusstsein, dieser Weite und Energie in ihre alltäglichen Aufgaben und Beziehungen einbringen – um es noch einmal zu sagen, wenn sie eher eine Welle als der Ozean sind. Von welche Qualitäten berichten sie, welche entfalten sie, wenn sie mitten in der Welt leben und sich doch erinnern, wer sie wirklich sind? Was sind die typischen Kennzeichen von Selbst-Führung?
Eine vollständige Antwort auf diese Frage habe ich nicht. Nachdem ich 20 Jahre lang Menschen darin unterstützt habe, zu ihrem Selbst zu gelangen, bin ich in der Lage zu beschreiben, was meine Klienten auszeichnet, sobald mehr von ihrem Selbst anwesend ist. Als ich die verschiedenen Adjektive durchging, die meine Beobachtungen beschreiben sollten, tauchten immer wieder Wörter auf, die mit dem Buchstaben „C“ beginnen.Und dies schließen die acht C´s der Selbst-Führung ein: Gelassenheit (calmness), Neugierde (curiosity), Klarheit (clarity), Mitgefühl (compassion), Zuversicht (confidence), Kreativität (creativity), Mut (courage) und Verbundenheit (connectedness).